Pflegebedürftige Obdachlose: „Das sind Menschen, die geschützt werden müssen“

Stand: 07:16 Uhr Blick in den Garten der Einrichtung für pflegebedürftige obdachlose Menschen in Hamburg-Niendorf Blick in den Garten der Einrichtung für pflegebedürftige obdachlose Menschen in Hamburg-Niendorf Quelle: dpa Die Versorgung alternder wohnungsloser Menschen ist ein Problem. In Hamburg hat nun die erste Unterkunft für pflegebedürftige Obdachlose eröffnet, in der auch Menschen ohne Pflegeversicherung versorgt werden. Zuvor hatte es Bedenken in der Nachbarschaft gegeben. Anzeige Anzeige

Die barrierefreien Zimmer waren sorgfältig vorbereitet worden, als in der vergangenen Woche die ersten 18 Bewohnerinnen und Bewohner einzogen: Am 23. April eröffnete im ehemaligen Seniorenwohnstift am Garstedter Weg in Niendorf die erste städtische Pflegeeinrichtung für schwer kranke obdachlose Menschen. Zunächst sollen 32 Personen aufgenommen werden, danach schrittweise weitere 20 dazukommen. Vor der Eröffnung waren Bedenken in der Nachbarschaft laut geworden.

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So gab es die Sorge, dass sich das Stadtbild des Wohnviertels ändern könnte, Menschen auf der Straße herumhängen und Drogen konsumieren könnten. Auch wurde gemutmaßt, dass das Seniorenheim zugunsten der Obdachloseneinrichtung geschlossen worden sei. Bei einem offenen Abend Anfang April konnten Anwohnerinnen und Anwohner dann die Räumlichkeiten ansehen und Fragen stellen. Die Stimmung sei insgesamt positiv gewesen, einige hätten direkt Interesse an einer ehrenamtlichen Tätigkeit angemeldet, berichtet Einrichtungsleiterin Anna Kwaku. Bevor die Belegungszahl weiter erhöht wird, soll ein Runder Tisch tagen. Insgesamt können dort bis zu 118 Menschen in Einzel- und Doppelzimmern unterkommen.

Impuls zum Wohnprojekt gab die Pandemie

Ein vergleichbares Wohnprojekt gab es in Hamburg bisher nicht. Den Impuls habe die Pandemie gebracht, so die zuständige Bereichsleiterin bei Fördern & Wohnen, Katrin Wollberg zu WELT AM SONNTAG. „Während der Lockdowns, als unsere Klienten nirgends mehr hin konnten, wurde deutlich, wie krank viele Menschen tatsächlich sind. Dazu kommen die verkürzten Liegezeiten in Krankenhäusern, die zu vermehrten Anfragen im Hilfesystem geführt haben. Wenn jemandem gerade ein Bein amputiert wurde, kann man ihn nicht auf die Straße entlassen, der muss weiter versorgt werden.“

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In dem von Fördern & Wohnen im Auftrag der Sozialbehörde betriebenen Haus sollen die Bewohnerinnen und Bewohner nun eine Grundversorgung erhalten, auch ohne Pflegeversicherung. Hauptsächlich gehe es um psychosozialen Pflegebedarf, so Wollberg, um soziale Kontakte, regelmäßiges Essen, Hygiene, Wundversorgung. „Die Bewohnerinnen und Bewohner haben Diagnosen wie Krebs, Diabetes oder Demenz, sie benötigen zu festen Zeiten Medikamente und Verbandswechsel, müssen zur Chemotherapie oder regelmäßig beim Arzt vorstellig werden, viele sind außerdem mobilitätseingeschränkt.“ Die Niendorfer Einrichtung als ehemaliges Seniorenheim mit vorhandener Pflegeausstattung passe da besser als die nicht barrierefreie Notunterkunft in der Hammerbrooker Friesenstraße.

Gesundheitszustand durch Lebensumstände verschlimmert

Die Versorgung alternder Wohnungsloser ist in ganz Deutschland eine Herausforderung. „Der Gesundheitszustand älterer wohnungsloser Menschen ist von ihren besonderen Lebensumständen geprägt und wird durch diese deutlich verschlimmert“, sagt Sabine Bösing, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Mangelnder Schutz vor Witterung, begrenzte Ruhe- und Hygienemöglichkeiten sowie einseitige Ernährung belasteten die Menschen körperlich und psychisch. Hinzu kämen Gewalterfahrungen. Bösing: „Viele Wohnungslose im mittleren Lebensalter sind deutlich vorgealtert und leiden an mehreren Erkrankungen. Sie sind gesundheitlich weniger belastbar und damit anfälliger für Erkrankungen, Behinderungen oder Stürze.“ In Hamburg sind rund 40.000 Menschen in verschiedenen Förderunterkünften untergebracht. Zudem gelten knapp 2000 Menschen als obdachlos und lebten bei den letzten Zählungen auf der Straße.

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Die Neu-Niendorfer sind laut Bereichsleiterin Wollberg im Alter zwischen Ende 40 und Ende 70 Jahre alt und „Menschen, die geschützt werden müssen“. Auch vor dem Verhalten mancher Klienten unter Alkohol- und Drogeneinfluss in anderen Einrichtungen. In der neuen Pflegeeinrichtung sei nur der Konsum „leichter alkoholischer Getränke“ gestattet, soweit dadurch „nicht der soziale Frieden in der Einrichtung und das regelkonforme Auftreten innerhalb und außerhalb der Einrichtung gefährdet werden“. Zudem sollen nur Menschen einziehen, die das Team von Fördern & Wohnen schon aus der Notunterkunft kennt. Die Sozialbehörde hat auf Wunsch der benachbarten Schule einen Sicherheitsdienst – nicht, weil man eine von den Bewohnern ausgehende Gefahr vermute, so Wollberg. Aber man wolle die Sorgen der Anwohner ernst nehmen. In derselben Straße entsteht noch ein weiteres Modellprojekt, das Obdachlosen ein niedrigschwelliges Wohnangebot machen soll.

Ambulanter Pflegedienst betreut rund um die Uhr

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In der Friesenstraße wird bereits mit einem ambulanten Pflegedienst zusammengearbeitet, der nun auch zunächst mit je einer Pflegekraft im Früh- und Spätdienst nach Niendorf kommt. Schwerst pflegebedürftige Patienten, die zum Beispiel künstlich ernährt oder beatmet werden müssen, können nicht einziehen.

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In der Einrichtung haben die Bewohner geregelte Tagesabläufe und erhalten unterschiedliche Hilfsangebote. „Die Menschen können hier bleiben und zur Ruhe kommen“, sagt Leiterin Kwaku. Wenn sich ihr Zustand stabilisiert, sollen sie nach Möglichkeit in andere Wohnformen umziehen. Aufgrund der schweren Erkrankungen sei aber davon auszugehen, dass manche bis zu ihrem Tod in der Niendorfer Einrichtung wohnen bleiben, heißt es seitens der Sozialbehörde.

Kinder bringen Papierblumen als Willkommensgeschenk

Die ersten Bewohnerinnen und Bewohnern der Pflegeeinrichtung erhielten Papierblumen als Willkommensgeschenk, selbstgebastelt von Kindern aus umliegenden Kitas. „Uns erreichen viele Spenden, Nachbarn fragen, ob wir Rollstühle oder anderes Equipment benötigen“, berichtet Bereichsleiterin Wollberg. Die benachbarte Schulleitung brachte Brot und Salz und wünschte eine „gute Nachbarschaft“. Ein Geschenk mit langer Tradition: Brot und Salz stehen unter anderem für Wohlstand und Sesshaftigkeit, zudem sollen sie vor Unheil bewahren. All diese Gesten helfen, so Wollberg, aus der Unterkunft ein echtes Zuhause zu machen – ein Gefühl, das viele der Bewohner schon lange nicht mehr hatten.

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