Uraufführung: Eine für alle

Stand: 18:37 Uhr Stefan Grund Redakteur Laios (Lina Beckmann) und Chor Quelle: Monika Rittershaus „Laios“ als großes Solo für Lina Beckmann. Die Schauspielerin begeistert im zweiten Teil des Antikeprojekts „Anthropolis“ von Karin Beier auf Grundlage der Dramen von Roland Schimmelpfennig am Hamburger Schauspielhaus. Anzeige Anzeige

Die Kuh liegt auf der Bühne des Hamburger Schauspielhauses immer noch dort, wo sie in „Prolog/Dionysos“, dem ersten Teil der Theaterserie „Anthropolis“ von Intendantin Karin Beier tot umgefallen ist. Die Premiere des zweiten Teils „Laios“ beginnt mit einem kleinen „Was bisher geschah“. Schauspielerin Lina Beckmann die Geschichte der Stadt Theben im Schnelldurchlauf: Von der Gründung durch Europas Bruder Kadmos bis zu dessen Enkel Labdakos. Die Bühne, entworfen von Johannes Schütz, ist im zweiten Teil erneut eine weite Spielfläche, diesmal gerahmt von einem schwarzweißen Aquarell mit Flächen und Graustufenverläufen in Tuschrinnsalen. Vorn steht ein kleiner Stapel mit großen weißen Ziegeln. Was man so braucht, um eine Stadt zu gründen. Eine Geschichte von Blut und Gewalt. Eine Geschichte vom Kampf mit den Göttern, die Zeit von Dionysos und Polydoros, letzerer Sohn des Kadmos und Vater des Labdakos. Titelheld Laios ist also der Urenkel von Stadtgründer Kadmos.

So könnte es gewesen sein, oder anders

Anzeige

Schon ist das Publikum mittendrin im großen Monolog für Lina Beckmann, die diesmal in anderthalb Stunden alle Rollen übernimmt, mittendrin im Stimmengeflecht, das der Dramatiker Roland Schimmelpfennig auf Basis erhaltener Varianten des Mythos von Laios gewoben hat. Die Tragödien „Laios“, „Ödipus“ und das Satyrspiel „Sphinx“ von Aischylos gingen verschütt in den Trümmern der Antike, Schimmelpfennig hat das Beste aus der Not gemacht: Die möglichen Varianten der Ereignisse werden auf mythischer Basis unterschiedlicher Quellenfragmente durchgespielt. Zur Zeugungsgeschichte von Ödipus gibt es etwa gleich vier Varianten von Vergewaltigung bis zu Verführung, von heimlich bis öffentlich. Lina Beckmann spielt sich hoch konzentriert durch sämtliche Rollen, vom König von Theben, bei ihr ein charismatischer Gewerkschaftsführer, über Iokaste, die mal so und mal ganz anders sein kann bis zu einer großartigen, verrauchten Pythia. Beckmann spielt auch den Chor selbst, den sie hier in Gestalt von fünf Masken auf Stangen auf die Bühne gestellt hat.

Nicht zu vergessen: Beckmann als griechische Sphinx, als Fabelmischwesen aus Vogel, Katze und Frau, von Laios aus der Verbannung mitgebracht. Nun kreist sie über der Stadt und in den Köpfen ihrer Einwohner. Noch jemanden hat Laios dabei, als er in seine Geburtsstadt zurückkehrt: Seinen Geliebten Chrysippos, den Jüngling, der wahlweise geflohen ist oder entführt wurde. Die blitzschnellen Wechsel zwischen den Rollen, die klare Charakterisierung durch einfache, strukturierende, wiederkehrende Gesten, Haltungen, Gänge, Sprechweisen, Blicke – das ist intensive, feinste Schauspielkunst und Hochleistungssport zugleich. Zum Schluss steht das ganze Publikum – wie auf Kommando – gleichzeitig auf und spendet Beckmann dankbar stürmischen Applaus.

Pythia, Glückskeksorakel von Delphi

Anzeige

Schimmelpfennig schafft auch durch Bezüge zu beliebigen Großstädten von heute – Pythia ist nicht nur der Name des Orakels von Delphi, sie wohnt auch im eigenen Schnellimbiss gleichen Namens, der so gut wie in Athen auch in New York, Berlin oder Hamburg stehen könnte. Dort hockt sie neben dem Glückspielautomaten, hustet sich erst mal die Raucherlunge aus dem Hals, in dem ihr die Prophezeiung stecken geblieben ist, und liest ihren Spruch schließlich ganz lapidar vom Zetteln aus einem chinesischen Glückskeks ab.

ANZEIGE Krampfadern entfernen: In Hamburg setzen Experten auf moderne Methoden

Doch weder Zettel noch der Glückskeks sind Teil der Requisite, noch ist der Imbiss Teil des Bühnenbildes. Lina Beckmann spielt das alles mit – und wenn sie sich die Krümel vom Hemd wischt, dann müssen die ja vom zerbröselten Keks stammen, auch wenn der nicht da ist. Da sind plötzlich, in einer Videoeinspielung vom Ufer der Elbe, nahe den Elbbrücken, wo sie immer Lagerfeuer machen: Theresias (Michael Wittenborn) mit seiner Klampfe, Kreon (Ernst Stötzner), Iokaste (Julia Wieninger), Eurydike (Josefine Israel) und Chrysippos (Goya Brunnert). Was Theresius prophezeien will, geht dabei leider immer im Rattern eines Güterzuges unter. Und auch sonst verschafft die Truppe Beckmann nicht mehr als eine Atempause.

Zivilisation ja, Demokratie nein

Regisseurin Karin Beier gelingt wie im ersten Teil auf Basis von „Anthropolis“ auf Grundlage des zweiten vorzüglichen Dramentextes von Schimmelpfennig die schmale Gratwanderung zwischen Komödie und Tragödie, zwischen Lachen und Weinen, zwischen Abscheu und Zuneigung. Erneut stark: Die Musik von Jörg Gollasch fördert Spannung und Furcht (wenn Laios versucht, die Stadt Theben ein zweites Mal zu gründen, als Zivilisation auf rationalem Grund. Könnte ja sein, dass hinter den Sternen nichts ist, die Leere, keine Götter. Dann könnten „wir uns ja auch selbst regieren“ kommt als ketzerischer Einwurf aus dem Chor. Wird aber gleich abgebügelt. Schließlich beruht Laios Herrschaft auf der direkten Verwandtschaft mit dem Gründer Kadmos. Nützt ihm aber auch nichts. Schließlich hat die verdammte Alte vom Imbiss, die ja immer recht hat, auch diesmal recht. Ödipus erschlägt Laios, heiratet seine Mutter und … Aber halt. To be continued. Die Geschichte von „Ödipus“ von Schimmelpfennig nach Sophokles wird im Schauspielhaus im dritten Teil erzählt, die Uraufführung geht am 13. Oktober über die Bühne.

This entry was posted in Uncategorized. Bookmark the permalink.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *