Hamburg: Weit entfernt vom Flüchtlings-Konsens

Stand: 10:42 Uhr Welt Redaktion Hamburg Redakteur WELT/WELT AM SONNTAG Hamburg Unterkünfte für 144 Geflüchtete sollen auf dem Besucherparkplatz des Botanischen Gartens entstehen Quelle: Bertold Fabricius Auf dem Parkplatz des Botanischen Gartens in Klein Flottbek in Hamburg soll eine Unterkunft für 144 Geflüchtete entstehen. Die hitzige Debatte zeigt die grundsätzlichen Probleme der Stadt auf. Eine FDP-Politikerin stellt sich gegen die Pläne und wird angefeindet – obwohl sie Alternativen aufzeigt. Anzeige Anzeige

Der Stein des Anstoßes ist ein kleiner Parkplatz, verborgen hinter großen Hecken, knapp 80 Meter lang und 35 Meter breit. Die Auffahrt wird von zwei Pollern begrenzt. Linker Hand befindet sich der Eingang zum Botanischen Garten. Am Eingang steht ein Tulpenbaum, eine nordamerikanische Baumart. In Deutschland ist er ein pflanzlicher Migrant. Noch wirft er seinen Schatten auf die Wagen der Parkbesucher. Doch vom kommenden Jahr an könnte sich das Magnolien-Gewächs über sechs zweistöckige Holzhäuser erheben, die den Parkplatz nahe der S-Bahnstation Klein Flottbek einnehmen sollen.

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Über mindestens fünf Jahre sollen auf dem Parkplatz 144 Geflüchtete leben. So will es die Stadt, die unter der Last des anhaltenden Flüchtlingsstroms ächzt. Der Parkplatz solle bleiben, wie er ist, und stattdessen eine knapp vier Kilometer entfernte Fläche genutzt werden, fordern hingegen Bewohner des Elbvorortes Nienstedten, zu dem Klein Flottbek gehört. Jedenfalls die, die sich in einer Bürgerinitiative organisiert und einen Anwalt beauftragt haben. Eine Klage wird vorbereitet.

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Es ist in Hamburg nicht neu, dass ein Flüchtlingsstandort kontrovers diskutiert wird. Wenn die Gegner dann noch in einem Elbvorort wohnen, ist schnell ein Klischee bedient. Doch so einfach ist es nicht. Der Fall zeigt, wie sehr die Flüchtlingssituation die Stadt belastet, wie eng die Spielräume politischen Handelns sind.

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„Vor allem aber zeigt er, wie falsch geführte Diskussionen und fehlende Bürgerbeteiligung die Gesellschaft weiter spalten und rechten Parteien wie der AfD weiter Zulauf verschaffen“ – so sieht es Katarina Blume, Vize-Landeschefin und Fraktionsvorsitzende der FDP in der Altonaer Bezirksversammlung. Und: „Wer sich heute, aus welchem guten Grund auch immer, gegen einen Flüchtlingsstandort ausspricht, wird sehr schnell in die rechte Ecke gedrückt.“

Die Hamburger FDP-Politikern Katarina Blume Quelle: Bertold Fabricius

Die 60-Jährige ist seit 15 Jahren in der Bezirkspolitik, war mal Mitglied der CDU und seht dem Sozialausschuss vor. „Mit den Themen der Unterbringung und der Integration von Flüchtlingen bin ich mehr als vertraut“, sagt sie. Die FDP-Frau hat gemacht, was man nicht macht, wenn man nicht ins politische Abseits gerückt werden will – sie hat einen Antrag gegen den Standort am Botanischen Garten eingebracht. Seitdem ist die Stimmung im Bezirk noch mehr aufgeladen. Getrübt aber wurde sie schon viel früher. Und das hatte mit Katarina Blume erst einmal gar nichts zu tun. Vielmehr mit der Genese der Entscheidung für den Standort.

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Mitte März kam Bewegung in den Stadtteil, als der Senat auf eine Kleine Anfrage der AfD erklärte, dass der Parkplatz am Botanischen Garten „potenziell zum Zwecke der öffentlich-rechtlichen Unterbringung genutzt werden“ könnte. Die Planungen seien nicht abgeschlossen, hieß es. Niemand nahm davon Kenntnis, bis zwei rechtskonservative Online-Portale die Nachricht aufgreifen, dabei aus dem Konjunktiv einen Indikativ machten. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer: Eine Flüchtlingsunterkunft kommt. Oder kommt sie nicht? „Warum spricht niemand mit uns?“, ist eine Frage, die auch an die Redaktion der WELT AM SONNTAG herangetragen wurde.

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Am 9. April, drei Wochen nach der Senatsantwort, trat Hamburgs Bürgermeister mit „Peter Tschentscher live“ im Restaurant Knips in Klein Flottbek auf. Nach dem Ende des offiziellen Teils wurde er auf die Unterkunft angesprochen, sagt, „dass er zum konkreten Stand der Prüfung keine Angaben mache könne“. Er verwies auf die Behördeninformationen. Auf Nachfrage in der Senatskanzlei heißt es später dazu, dass der Bürgermeister „bei der Vielzahl der in der Prüfung befindlichen Flächen und Immobilien nicht tagesaktuell über den Stand der einzelnen Prüfungen unterrichtet werde“.

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Am 22. April rief der Bürgerverein Flottbek-Othmarschen die Bezirksfraktionen zusammen. Es ging um die Frage: „Zufrieden mit der Bezirkspolitik Flottbek-Othmarschen?“ Die neue Unterkunft ist dort Thema, aber ob sie kommt, blieb offen. Die Sozialbehörde erklärte mehrfach auf Nachfrage, es gebe noch keine Entscheidung.

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Am 23. April allerdings schickte sie ein sogenanntes 28er-Schreiben, ein Anhörungsschreiben, an die Bezirksversammlung. Es war der Moment der Wahrheit – die Unterkunft am Botanischen Garten wird kommen. Seit der Senatsanfrage sind zu diesem Zeitpunkt fünf Wochen vergangen, in denen die Unterkunft wie ein Ufo über Klein Flottbek kreist, von dem man nicht weiß, ob es wirklich zur Landung ansetzt. Fünf Wochen, in denen Wut wuchs. Es sei eine Form der „Infantilisierung“, sagt ein Anwohner.

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„Wir haben 2015/16 gelernt“, sagt Katarina Blume, „dass frühe Information und das Aufnehmen von irrationalen Ängsten die Grundvoraussetzung dafür sind, Gegenreaktionen wie Klagewellen vorzubeugen.“ Die Gedanken seien: Die planen und informieren nicht, also muss es zu unserem Nachteil sein. Dabei hätte es Möglichkeiten gegeben, sagt Blume.

Hinzu kommt: In den fünf Wochen ist mehr passiert, als ein „potenziell“ vermuten lässt. Nicht nur die Fläche wurde geprüft, sondern auch die Stimmung im Bezirk. Am Abend etwa, als Tschentscher im Restaurant Knips weilte, wurden die Fraktionen in einer vertraulichen Bauausschusssitzung über die Pläne informiert. Einige Stadtteilpolitiker sollen noch früher davon gewusst haben. Kommuniziert wurde nicht. Von einer Bürgerbeteiligung ganz abgesehen.

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Die Sozialbehörde weist die Kritik von sich: „Wir informieren erst, wenn wir sicher sind“, sagt Sprecher Wolfgang Arnhold. Immer wieder scheiterten Pläne. „Informieren wir zu früh, bekommen wir unnötige Standortdiskussionen.“ Flüchtlingsstandorte werden aktuell nach dem Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (SOG) eingerichtet – also zur Gefahrenabwehr.

Menschen vor Obdachlosigkeit zu bewahren

„Es geht darum, Menschen vor Obdachlosigkeit zu bewahren“, sagt Arnhold. „Was wir anbieten, ist eine Bürgerinformation, um mit den Leuten vor Ort ins Gespräch zu kommen. Anregungen und Ideen aus diesen Formaten nehmen wir mit, wir können aber keine umfassende Bürgerbeteiligung durchführen.“ Forderungen an die Behörde würden sorgfältig geprüft. „Das Problem ist die große Standortknappheit“, sagt Arnhold. „Wir sind angewiesen, nutzbare Flächen auch nutzen zu können.“

Die Situation ist nämlich heikel. 2023 mussten mehr „Asyl- und Schutzsuchende“ versorgt werden als im Vorjahr. Der Trend hält auch in 2024 an, bringt das System an seine Grenzen. Die Kapazitäten sind erschöpft, die Auslastung liegt bei fast 98 Prozent: Von 48.243 Plätzen gelten 47.256 als belegt. An 236 Standorten hat die Stadt Geflüchtete untergebracht, sucht händeringend nach mehr.

An einem Freitag Mitte April, als noch alles im Unklaren ist, lud Katarina Blume zum Bürgergespräch in das FDP-Büro in Ottensen. Eher ein Standardtermin, doch diesmal waren Anwohner aus Klein Flottbek dabei. Sie sagte, sie sei gegen eine Unterkunft auf dem Parkplatz. Ihre Gründe: Der Platz sei zu klein, um neben den Wohngebäuden auch Gemeinschaftsflächen zu ermöglichen. Discounter seien nicht fußläufig zu erreichen. Es gebe kaum bestehende Sozialstrukturen in der Nachbarschaft und keine ausbaufähigen Kapazitäten zur Beschulung der Kinder. Sie verweist auf eine Alternativfläche, eine Gewerbefläche, die an eine Event-Agentur verpachtet ist. Der Vertrag läuft aus. Den Kinderzirkus dort gibt es nicht mehr. Es ist eine Fläche, die der Sozialbehörde bislang nicht bekannt ist.

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Dieser Abend markiert möglicherweise den Beginn des organisierten Widerstands. Wenige Tage später wird die Bürgerinitiative „Flottbek für adäquate Flüchtlingsunterkünfte“ aus der Taufe gehoben. Sie übernimmt Blumes Argumente. „Es geht um die erfolgreiche Integration von Menschen in unser Gemeinwesen“, sagt Dietmar Reich, einer der Initiatoren. „Keiner von uns kann es sich leisten, darauf zu warten, dass diese Integration an Fehlern oder politischen Eingriffen in das Verwaltungsverfahren scheitert.“ Die Bürger hätten die demokratische Pflicht, „Sorgfalt und Transparenz einzufordern und unsere Entscheidungsträger in die Pflicht zu nehmen, um die beste Lösung zu finden, damit diese Integration gelingen kann“.

„Kann man nur noch als widerlich bezeichnen“

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Blume bringt ihren Antrag in die Bezirksversammlung ein. Auf der Sitzung Ende April wurde sie regelrecht zerfetzt – verbal. Es fielen Vokabeln wie „hirnrissig“, „fassungslos“, „Unfug“ und „blinder Populismus“. Kurzfristige populistische Wahlziele seien Blume wichtiger, als anschlussfähig zu sein. Es folgten persönliche Beschimpfungen über die sozialen Netzwerke. Die grüne Bezirksamtsleiterin Stefanie von Berg, die selbst mal Opfer von Cybermobbing war, schreibt: „Das kann man nur noch als widerlich bezeichnen.“ Und dankte dem Online-Podium für die „klare Abgrenzung gegen Rechts“.

Noch Tage später ist Blume aufgewühlt. „Ich habe mich nicht hingestellt und rechtsextreme Parolen gerufen“, sagt sie. „Ich habe einen Alternativvorschlag gemacht.“ Die Reaktionen seien so massiv ausgefallen, „weil ich ausschere. Und weil ich dieses Wir-sind-hier-alle-im-Konsens-Narrativ verhindere.“

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Übrig bleibt die Frage, wo politische Diskussion noch möglich ist, in einer Zeit, in der die Stadt sich selbst gezwungen sieht, Flüchtlingsstandorte nach dem Gefahrenabwehrrecht zu errichten. Wo auch die Anhörungsschreiben an die Bezirke nur Makulatur sind.

„Wie eine Diskussion ausfällt, hängt immer mit den Argumenten zusammen, die vorgebracht werden“, sagt die grüne Fraktionschefin Gesche Boehlich. Blume sei gegen die Unterkunft, weil sie und Bekannte unmittelbar betroffen seien. Der Standort sei so ideal, „dass er in dem Rahmen, den man gerade zur Verfügung hat, einfach keine Kritik zulässt“, sagt sie. Insbesondere, weil ja immer kleine Unterkünfte gefordert würden. Zudem sei es eine berechtigte Kritik, dass die Unterkünfte ungerecht in der Stadt verteilt seien.

Jeder Stadtteil anders aufgestellt

In den Elbvororten ist die Zahl der Unterkünfte durchaus gering. Drei gibt es, in Othmarschen. Südlich der B431 und westlich der A7 gar keine, dazu gehören Nienstedten und eben auch Klein Flottbek. Aber: „In der Tat geben die Elbvororte auch weniger Flächen her“, sagt Sprecher Arnhold. Einzelhausbebauung mit großen Grundstücken und viel Privatbesitz mache es schwierig, geeignete Grundstücke zu identifizieren. „Die Idee, dass man in jedem Stadtteil gerechterweise eine Unterkunft errichten kann, ist schwierig umzusetzen, weil jeder Stadtteil anders aufgestellt ist.“

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Für die „Bürgerinitiative Flottbek für adäquate Flüchtlingsunterkünfte“ spricht Sahar Hesselbarth. Die 45-Jährige hat iranische Wurzeln. „Ich war selbst ein Flüchtlingskind“, sagt sie. Sie habe als Sozialarbeiterin angefangen, habe als Geschäftsführerin eines privaten Betreibers Flüchtlingsunterkünfte betrieben, einen Förderverein für freiwillige Rückkehrer gegründet und mehr als 500 Abschiebungen begleitet. „Es ist für mich eine Herzensangelegenheit darauf zu achten, dass die Politik richtig prüft und macht, was wirklich gut für die Menschen ist, deren Bedürfnisse hinterfragt. Und der Parkplatz ist definitiv objektiv nicht geeignet.“

Vor Ort läuft der Kampf um die Deutungshoheit an. Die Bürgerinitiative hat eine Petition gegen die Unterkunft gestartet und will eigenen Angaben zufolge mehrere Tausend Flyer verteilen. Die Zahl der Unterstützer wachse stündlich, sagt Hesselbarth. Mehr als 1000 Unterstützer habe die Initiative bereits.

Aus der Sozialbehörde heißt es, dass die Behörde Anfang Juni zu einer Info-Veranstaltung in Klein Flottbek laden und alle Fragen beantworten werde. Den von Blume aufgeführten Alternativstandort an der Osdorfer Landstraße werde die Behörde jetzt prüfen, sagt Arnhold. Allerdings als zusätzliche Fläche, nicht als Alternative.

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